Der Nürnberger Prozeß: Epilog.

Nuremberg_1945
Das Nürnberger Tribunal. Am 1. Oktober 1945 begann das Gericht der Völker. Zum ersten Mal in der Geschichte sitzt eine ganze Regierung auf der Anklagebank. Es handelt sich um Menschen, die ihre ganze Macht in verbrecherischster Weise zum Schaden der Völker eingesetzt haben und die unvorstellbares Grauen über ganz Europa brachten. Der sowjetische Journalist Arkadi Poltorak war Sekretär der sowjetischen Delegation. Hautnah erlebte er das Urteil der Völker über die faschistischen Verbrecher. In seinem Buch beschreibt er den Verlauf des Nürnberger Prozesse und wirft einen interessanten Blick hinter die Kulissen. Das letzte Kapitel:

Am 9. und 10. Oktober 1946 behandelte der Kontrollrat für Deutschland die Gnadengesuche der Verurteilten und lehnte sie ab. Nun war die Reihe an Master Sergeant John Wood, das Urteil zu vollstrecken. Ich. habe ihn in Nürnberg gesehen. Ein stämmiger, mittelgroßer Mann mit etwas groben Gesichtszügen. Er machte kein Hehl daraus, wie sehr er sich freute, daß die Wahl gerade auf ihn gefallen war. Ich glaube, er bedauerte nur, nicht auch Hermann Göring dem Galgen überantworten zu können.

Das Urteil wurde in der Nacht zum 16. Oktober vollstreckt. Vertreter der vier Mächte waren anwesend. Von der Presse hatte man nur acht Korrespondenten zugelassen, je zwei von der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten, von Großbritannien und Frankreich. Film- und Fotoaufnahmen waren während der Urteilsvollstreckung verboten.

Die beiden sowjetischen Korrespondenten, die der Hinrichtung beiwohnten, waren der TASS-Vertreter Boris Afanassjew, der in der sowjetischen Presse eingehend über den ganzen Nürnberger Prozeß berichtet hatte, sowie Wiktor Tjomin, der während des Krieges Fotoreporter an der Front war. Ich traf unmittelbar nach der Urteilsvollstreckung mit Boris Afanassjew zusammen. Wir unterhielten uns fast bis zum Morgengrauen, und ich erfuhr so manche interessante Einzelheit.

Vor der Hinrichtung der Naziverbrecher

Punkt zwanzig Uhr waren die Journalisten im Gerichtsgebäude erschienen. Man brachte sie, isoliert voneinander, in den Räumen unter, in denen gewöhnlich die Unterredungen der Angeklagten mit ihren Verteidigern stattgefunden und später die Verurteilten den letzten Besuch ihrer nächsten Angehörigen empfangen hatten. Alle Journalisten wurden verpflichtet, die ihnen zugewiesenen Räume nicht zu verlassen und vor Abschluß der Urteilsvollstreckung mit niemandem Kontakt aufzunehmen. Danach lud sie Oberst Andrews ein, das Gefängnis zu besichtigen, und bat sie um absolute Ruhe. Über eine schmale eiserne Treppe stiegen sie nach unten. Im Gefängnisgang herrschte Halbdunkel. Nur über elf Türen, brannten helle Glühlampen, deren Licht durch Reflektoren ins Innere der Zellen geworfen wurde. Sie gehörten den zum Tode Verurteilten. Wachposten beobachteten ununterbrochen die Todeskandidaten.
Nürnberg
Die Journalisten traten an jede Zelle heran und blickten nacheinander durch den »Spion«. In der ersten Zelle brachte Keitel ruhig und sorgfältig sein Bett in Ordnung und glättete die Falten der Schlafdecke. Blbbentrop, im Schein der Lampe, sprach mit dem Geistlichen. Jodl saß mit dem Rücken zur Tür und schrieb. Auf dem Tisch Tor ihm lagen Papierblätter und Bücher. Frick hatte sich zugedeckt und las. Auch Kaltenbrunner war dabei zu lesen. Sauekel ging nervös an der Zelle auf und ab. Frank rauchte, am Tisch, sitzend, eine Zigarre. Rosenberg schlief, Seyß-Inquart bereitete sich aufs Schlafengehen vor: Er wusch sich und putzte sich die Zähne.

Das Todesurteil wird vollstreckt

Um 21.30 Uhr ertönte ein leichter Gongschlag, das Zeichen zum Schlafengehen, Die letzten Lampen in den Zellen erloschen, und es wurde dunkel. Oberst Andrews führte die Journalisten nun durch den Gefängnishof zu einem kleinen Steingebäude tief im Garten, wo die Hinrichtung vollzogen werden sollte. Drei dunkelgrün gestrichene Hinrichtungsstätten hatte man vorbereitet. Zwölf Stufen, führten nach oben, von wo, an eisernen Blöcken. befestigt, dicke Seile herabhingen. Neben zwei Galgen lagen Lederriemen und schwarze Hauben, die den Delinquenten im letzten Augenblick über den Kopf gestülpt werden sollten. Der dritte Galgen war, wie Oberst Andrews erklärte, als Reserve gedacht. Gegen dreiundzwanzig Uhr kehrten die Journalisten, in die ihnen, zugewiesenen Räume zurück, wo man sie bat zu warten. Es dauerte fast zwei Stunden, und erst 0.55 Uhr nahmen sie ihre Plätze in drei bis vier Meter Abstand vom Galgen ein.

Als erster wurde Ribbentrop hereingeführt. Er war völlig kraftlos und konnte nur mit Muhe seinen Namen hervorbringen. Nach einem kurzen Gebet des Geistlichen wurde das Urteil sofort vollstreckt. Master Sergeant Wood arbeitete erstaunlich schnell und geschickt. In anderthalb Stunden waren alle zum Tode verurteilten faschistischen Hauptkriegsverbrecher hingerichtet. Ihre Körper wurden dann nach München geschafft, dort in. einem Krematorium verbrannt und ihre Asche in alle Winde verstreut. Die vom Internationalen Militärgerichtshof zu langen Gefängnisstrafen verurteilten Hauptkriegsverbrecher Heß, Funk, Raeder, Dönitz, Schirach, Speer und Neurath wurden nach Spandau übergeführt. Das düstere Spandauer Festungsgefängnis – es bot Platz für viele Strafgefangene – wurde nun zum Aufenthaltsort der sieben faschistischen Verbrecher. Die vier Mächte kamen überein, das Gefängnis gemeinsam zu verwalten. Seitdem wechseln allmonatlich sowjetische, amerikanische, britische und französische Wachen einander ab.

Wie schon gesagt, wurde Heß in Nürnberg wiederholt von der Anklagebank weggeführt, wenn er über starke Schmerzen klagte. Man erzählte sich damals, er leide unter Magenkrebs. Und wenn ich ihn so im Gerichtssaal beobachtete und sah, wie er sich plötzlich vor Schmerzen krümmte, glaubte ich es sogar. Krebs ist eine furchtbare Krankheit. Sie kennt weder geographische noch politische, sondern nur zeitliche Grenzen. Der Prozeß ging jedoch vorüber, das zweite Jahrzehnt im Spandauer Gefängnis ist voll, und Heß lebt immer noch.

Die Gefangenen von Spandau

Die gefangengehaltenen Naziverbrecher wurden von ihren ausländischen Freunden nicht vergessen. Wie Jack Fishman in seinem Buch »Sieben in Spandau« schreibt, können die Häftlinge nur während des Monats, in dem sie von sowjetischen Soldaten bewacht werden, dem Frieden nicht schaden und politische Diversion treiben. Wie Fishman weiter berichtet, haben die Gefängnisinsassen von Spandau manches unternommen, um dem Revanchismus in Westdeutschland zur Wiedergeburt zu verhelfen und die neonazistischen Elemente zu aktivieren. Beispielswelse gibt er den Inhalt eines von Dönitz aus dem Gefängnis geschriebenen Briefes wieder. Er war zwar an seine Frau gerichtet, aber über sie gab Dönitz seinen Gesinnungsfreunden in Bonn Ratschläge, wie die Remilitarisierung durchzuführen sei.

… sie werden wieder mobil

fishman-spandau

Die Zeitschrift »The New Statesman and Nation« ließ die festgesetzten. Verbrecher immer wieder gern zu Wort kommen und hielt auch genügend Seiten für ihre Rehabilitierung frei. In England fanden sich auch barmherzige Ladies und Gentlemen, die die Zeitschrift mit Briefen überschütteten, in denen sie ihr Mitgefühl mit den »Gefangenen von Spandau« äußerten. Solch eine Lady – sie schämte sich freilich, ihren Namen zu nennen – wandte sich seinerzeit in einem offenen Brief an die Frau Neuraths. Öffentlich bekundete sie ihre große Sympathie mit Neur.atli und erklärte der erstaunten Welt, es sei der Wunsch, der britischen Regierung, Neuratb. so bald wie möglich in Freiheit zu sehen. Ein anderer Brief dieser Art war an die Frau von Dönitz gerichtet – desselben Dönitz, der so energisch befahl, möglichst viele englische Seeleute in den nassen Tod zu schicken, und der dabei keine geringen Erfolge hatte. Und darin wurde kategorisch behauptet: »Ihr Mann ist ein Opfer der heutigen ungünstigen politischen Situation.«

Damit kein Zweifel am politischen Kredo dieser Zeitschrift bleibt, mochte ich einen weiteren von ihr veröffentlichten Brief zitieren. Darin heißt es: »Die Konzeption über die deutschen Kriegsverbrechen muß aus den Geschichtsarchiven ausgemerzt werden. Seitdem der Bolschewismus als der Feind der westlichen Zivilisation erkannt worden ist, muß die deutsche Armee von dem Fleck befreit werden, der auf ihrer Ehre liegt.«

Die Weiber der Naziverbrecher

Aber auch die Frauen der abgeurteilten Hauptkriegsverbrecher blieben nicht untätig. Ilse Heß zum Beispiel veröffentlichte das Buch »England-Nürnberg-Spandau. Ein Schicksal in Briefen«. Ihr Ehemann schwelgt darin geradezu in süßen Erinnerungen an seinen britischen Aufenthalt: »Nun, der Herzog von Hamilton sorgte dann dafür, daß ich … in ein Lazarett kam (Heß hatte sich beim Absprang über Schottland ein. Bein verletzt – A. P.), das, etwa eine halbe Stunde Autofahrt außerhalb der Stadt gelegen, einen wunderschönen Blick auf die eigenartig reizvollen… Hügel und Berge der schottischen Landschaft bot.« Dann zählte Heß die prächtigen Villen auf, in die man ihn nach der Lazarettbehandlung einquartierte. Wahrhaft idyllisch schienen die Zustände zu sein, unter denen er lebte. »Der ,Kommandant‘, von Beruf in friedlichen Zeiten Kunstmaler, … spielte wunderschön zart Mozart.« Heß machte »größere und kleinere Spaziergänge, zum Teil auch. Autofahrten in die weitere Umgebung«. Wer von den britischen Soldaten, die in Europa mutig gegen die faschistischen Armeen kämpften, konnte vermuten, daß zur selben Zeit in ihrer Heimat der Stellvertreter Hitlers so umhätschelt wurde?

Musikalische Massenmörder

Die Jahre vergingen. Der Nürnberger Prozeß fand statt. Die faschistischen Hauptverbrecher wurden gehenkt, und nach allen menschlichen Gesetzen hätte auch Heß seinen Platz an diesem gleichen Galgen finden müssen. Gerade das hatte der sowjetische Richter gefordert. Aber die westlichen Richter schenkten seiner Stimme keine Beachtung. So kam Heß nach Spandau, und auch hier ging es ihm nicht schlecht. Am 9. April 1950 schrieb er an seine Frau: »Ostern wurde durch Schallplattenmusik gefeiert… außer Bach ein wunderschönes Mozartklavierkonzert und Schuberts Forellenquintett – herrlich! Schöne Musik ist doch, als ob Gott selbst zu den Menschen spräche.« Auch Kannibalen lieben also Musik! Bekanntlich hielt sich auch der Kommandant von Auschwitz, Höß, im Lager ein Orchester aus hervorragenden Musikern ganz Europas. In ihren Häftlingskitteln mußten diese Unglücklichen ihren Henker und seine Meute erheitern, „wenn diese ihren schweren »Arbeitstag« beendet hatten. Auch vom Henker Heydrich sagte die Nazikamarilla, er sei ein leidenschaftlicher Musikfreund. Und Eichmann? Er musizierte gern in den Pausen zwischen der »Beschickung« der Krematorien. Welche grauenhafte Groteske, welche ungeheuerliche Verhöhnung: Musik und Nazismus!
SSWehrmacht
SSWehrmacht
LeningradSowjetisches Dorf
Verbrechen der SS und der Wehrmacht in der Sowjetunion

»Wo warst du, Adam?«

Viele Jahre nach dem Nürnberger Prozeß las ich den Roman des westdeutschen Schriftstellers Heinrich Böll »Wo warst du, Adam?« Auch darin wird solch ein »Verehrer der Musen«, der SS-Führer Filskeit, dargestellt. Zum Unterschied von Höß liebte er Chormusik. Als Kommandant eines Lagers wandte er »das Auswahlprinzip in der Weise an, daß er jeden Neuankömmling zum Vorsingen bestellte und seine gesangliche Leistung auf der Karteikarte mit Noten versah, die zwischen. Null und Zehn lagen. Null bekamen nur wenige – sie kamen sofort in den Lagerchor, und wer zehn hatte, hatte wenig Aussicht, länger als zwei Tage am Lehen zu bleiben.« Die Sänger lebten etwas länger.

Wie ging es weiter mit Heß, Raeder und Schirach?

Man braucht sich demnach nicht zu wundern, daß auch Heß ein Musikfreund war, der vor Entzücken verging, wenn er Funk im Gefängnis Mozart und Schubert spielen hörte. Das liegt allerdings heute schon weit zurück, denn Funk verließ Spandau im Jahre 1957, nachdem er elf Jahre von seiner Strafe abgesessen hatte. 1954 bereits begnadigten die alliierten Mächte den. 5ljäh-rigen Neurath. Der damalige westdeutsche Bundespräsident Heuß und Bundeskanzler Adenauer beglückwünschten ihn in Telegrammen dazu. Zwei Jahre später starb er. 1958 wurde Raeder im Alter von achtzig Jahren begnadigt. Sein Nachfolger als Oberbefehlshaber der faschistischen Kriegsmarine, Karl Dönitz, verbüßte seine Strafe und wurde 1956 entlassen. Für Schirach und Speer lief die Strafe im Oktober 1966 ab. Beinahe hatte Schirach diesen Tag nicht mehr erlebt. Im fünften Jahr seines Aufenthalts in Spandau unternahm er nämlich einen Selbstmordversuch. Nicht sein Gewissen oder Befinden trieb ihn dazu. Der Anlaß war viel trivialer: Seine Frau, Henriette von Schirach, hatte ihm ihre Absicht mitgeteilt, sich von ihm scheiden zu lassen. Schirach und Speer kamen, als verhältnismäßig junge Leute nach Spandau. Sie waren damals beide noch nicht vierzig. Das Gericht ließ ihnen gegenüber weitgehend Milde walten und verurteilte sie nicht zum Tode. Ihre Namen werden jedoch ebenso wie die der anderen in Nürnberg verurteilten Verbrecher von der ganzen Menschheit verflucht. Sie sind zu einem Synonym für die ungeheuerlichste, menschenfeindlichste Barbarei geworden.

»Herzlichen Gruß an Rudolf Heß!«

Das große Spandauer Gefängnis beherbergt heute nur noch einen, den zu lebenslänglicher Haft verurteilten Heß. Bereits 1954 hatte die Zeitschrift »Nation Europa« einen Beitrag unter der Überschrift »Herzlichen Gruß an Rudolf Heß!« veröffentlicht. Darin fanden sich unter anderen auch die folgenden Sätze: »Die Tatsache, daß kein einziger europäischer Staatsmann die Freilassung von Rudolf Heß gefordert hat, ist ein Zeichen für den tiefen Verfall Europas. Gleichzeitig ist es ein Beweis dafür, wie wenig echte Europäer wir haben.. . Wir beten zu Gott, daß Heß befreit werde. Er braucht keine Amnestie, das einzige, „was notwendig ist, ist die Verwirklichung der Rechtsprechung. Rudolf Heß gehört nicht mehr nur Deutschland, sondern uns allen, Europa.« Bedarf es noch weiterer Beweise für das Wiedererstehen des Faschismus in Westdeutschland und für die Gefahr, die dem Frieden dadurch droht? Heß sitzt jedoch nach wie vor im Gefängnis. Beweist das nicht die zunehmende Starke der öffentlichen Weltmeinung, die die Feinde des Friedens und der Menschheit nicht mehr ignorieren können? Nur sie bewirkte, daß bisher alle Versuche der Neonazisten, die Freilassung von Heß durchzusetzen, fruchtlos blieben.

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch… (Brecht)

So sieht sich die Welt erneut der Tatsache eines wiederaufgerüsteten imperialistischen Westdeutschlands gegenüber. Keitel und Jodl sind nicht mehr, doch es gibt die westdeutsche Bundeswehr, und die droht, wie einst die Naziwehrmacht, mit Waffengewalt die aggressiven Pläne der westdeutschen Monopolherren zu erfüllen. Hitler und Himmler sind tot, doch die nazistischen Organisationen schießen in Westdeutschland üppig ins Kraut, und die NP genießt den Schutz und die Förderung der herrschenden politischen Kreise.

Die Lehren aus dem Nürnberger Prozeß

Ist der Nürnberger Prozeß seiner Aufgabe, die Aggression, den deutschen Militarismus und Faschismus zu strafen, gerecht geworden? Hatte er vielleicht nur die Rädelsführer der Hitlerclique zu verurteilen? Finden die Akten des Nürnberger Prozesses nur noch, in den Archiven Platz? Natürlich, nicht! Die Nürnberger Dokumente sind auch, heute noch eine sehr scharfe Waffe für den Frieden und gegen die Aggressoren. Der Begriff »Archiv« ist diesem Material fremd. Der Nürnberger Prozeß mußte für die Geschichte des Völkerrechts bedeutungsvoll werden, und er wurde es auch. Das Urteil des Gerichtes machte nicht nur mit den am schwersten belasteten Kriegsverbrechern Schluß, sondern auch – und das war viel wichtiger – mit der verewigten Straffreiheit für eine Aggression und die Aggressoren.

Ein Aggressionskrieg ist das größte Verbrechen gegen die Menschheit (LENIN)

In den Oktobertagen des Jahres 1917 erklangen im Dekret über den Frieden zum ersten Mal die berühmten Leninschen Worte, daß ein Aggressionskrieg das »größte Verbrechen gegen die Menschheit« sei. An diese Worte mußte ich denken, als ich im Nürnberger Justizpalast das Urteil des Gerichtes der Völker vernahm. Klarer konnte das Leninsche Prinzip nicht verkündet werden. Friedrich Engels schrieb einmal, daß die Bourgeoisie wie die Ware auch die Geschichte verfälsche. Am besten würde dabei das Werk bezahlt werden, in dem die Geschichtsfälschung am gelungensten den Interessen der Bourgeoisie entspricht. Solche Fälschungen sind häufig die sogenannten Rot- oder Blaubücher, in denen bürgerliche Staatsmänner Dokumente in einer für sie vorteilhaften Auswahl und Reihenfolge veröffentlichen, um ihre eigene Politik zu rechtfertigen und Unschuldige für internationale Konflikte verantwortlich zu machen.

NATO und Militarismus am Pranger

Im Unterschied zu solchen raffiniert präparierten »dokumentarischen Beweisen« ist der Nürnberger Prozeß eine unbedingt zuverlässige Quelle für die Geschichte des zweiten Weltkrieges. Er zog die geheimsten Dokumente des faschistischen Staates ans Tageslicht, öffnete sein ganzes Archiv und enthüllte vor den Augen aller Volker die Methoden und Verfahren, deren sich die deutschen Militaristen bei der Vorbereitung des Krieges bedienten. Und hilft dieses Material nicht erkennen, wie sehr in den offiziellen Kommuniques über Sitzungen der NATO, der SEATO und der CENTO gelogen wird? Versucht man nicht, die Vorbereitung zu einem neuen Weltkrieg als »reine Verteidigungsmaßnahmen« hinzustellen ?

Die geläuterten Nazigeneräle

Vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg wurden nur die faschistischen Hauptkriegsverbrecher verurteilt. Es war beabsichtigt, die weniger hochgestellten. Nazikriegsverbrecher in anderen Prozessen zur Rechenschaft zu ziehen. Doch die Westmächte retteten diese Leute und machten sie zu ihren Bundesgenossen. So kamen Heusinger, Foertsch, Kammhuber, Speidel und andere Nazigenerale an das Ruder der Bundeswehr. Damit die Weltöffentlichkeit nicht protestierte, wurde der befleckte Ruf dieser treuen Diener des Faschismus neu aufpoliert. Plötzlich behauptete man, sie hätten mit dem Terrorregime nichts gemein gehabt und seien sogar seine eifrigen Gegner gewesen. Möglicherweise wäre das der imperialistischen Propaganda auch geglückt, wenn die Menschen die Leichenberge, die zerstörten Städte, das Stöhnen von Babi Jar und Maidanek vergessen hätten, wenn alles das ihrem Gedächtnis entschwunden wäre, was sich in der drückenden Stille des Nürnberger Gerichtssaals in historisches Anklagematerial verwandelte.
auschwitz

Kriegsverbrecher und Judenmörder in westdeutschen Diensten

Nein, die Kraft dieses Materials ist nicht erschöpft! Am eigenen Leib spürten das Koch, der Henker Polens und der Ukraine, Eichmann, der sechs Millionen Juden mordete, und Oberländer, der unzählige Greueltaten in der Sowjetunion verübte. Koch und Eichmann wurden vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Auch hier war das Nürnberger Urteil spürbar. Dem Kriegsverbrecher Oberländer, der sich in Bonn als Minister ein warmes Plätzchen verschafft hatte, mußte Adenauer unter dem Druck der entlarvenden Dokumente den Abschied geben. Der Strahl des Nürnberger Scheinwerfers erfaßte auch den Bonner Staatssekretär Globke. Im. Jahre 1965 verurteilte ihn das Oberste Gericht der DDR wegen schwerster Kriegsverbrechen in Abwesenheit. Die unwiderlegbaren Beweise zwangen Bonn, Globke ans seiner Stellung zu entlassen. Und einige Zeit später erzwangen Dokumente – von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR. an Bonn übergeben – den Rücktritt des Bonner Ministers Krüger, eines weiteren Faschisten. Wie gefährlich das Material des Nürnberger Prozesses nach wie vor ist, bekam auch der westdeutsche Generalstaatsanwalt Fränkel zu spüren. Es stellte sich heraus, daß auch er früher Nazi gewesen war und einen hohen Posten am Reichsgericht in Leipzig bekleidet hatte.

Es war ein historisch bisher einmaliger Gerichtsprozeß

In seiner Eröffnungsansprache hatte der amerikanische Hauptankläger Jackson gewarnt: »Ich denke, daß dieser Prozeß, wenn wir uns bei seiner Durchführung in eine Diskussion der Frage nach den politischen und ökonomischen Ursachen dieses Krieges einlassen, sowohl Europa als auch Amerika einen gewissen Schaden bringen kann.« Jackson wurde im Gerichtssaal richtig verstanden: Das Gespenst von München erhob sich vor den Augen der westlichen Ankläger. Und tatsächlich legte der Nürnberger Prozeß mit anatomischer Genauigkeit die Politik des imperialistischen Deutschlands bloß und zeigte den Völkern unseres Planeten, wie menschenfeindlich der Imperialismus und seine ständigen Begleiter – Aggression und Reaktion – sind. Niemals zuvor geschah das so deutlich wie in Nürnberg. Als aus London die Meldung eintraf, ein Internationaler Militärgerichtshof werde gebildet, befand ich mich noch unter den Kämpfenden. Schon damals konnte ich. mir vorstellen, wie schwierig es sein würde, einen solchen Prozeß durchzuführen. Die Schwierigkeiten wurden für mich noch, augenscheinlicher, als ich dann selbst in Nürnberg arbeitete.

Verschiedene Rechtsordnungen – gleiches Recht

Vor allem war es ein internationaler Prozeß, zu dem die Geschichte noch keinen Präzedenzfall kannte. Verschiedene Rechtssysteme – das europäische und das anglo-amerikanische Recht – mußten miteinander in Einklang gebracht werden und, was viel wichtiger war, eine gemeinsame Sprache für die Vertreter des sowjetischen und die des bürgerlichen Rechts war zu finden. Man mußte also allgemeine politische und juristische Prinzipien für eine ersprießliche Gemeinsamkeit ausarbeiten. Dem Internationalen Gerichtshof oblag es ferner, erstmals in der Geschichte über eine Aggression zu richten. Die rasch wechselnde internationale Lage ließ Klippen auftürmen, zwischen denen hindurch, der Kurs genau eingehalten werden mußte. Niemandem durfte es möglich werden, einen Konflikt zwischen der sowjetischen und den westlichen Delegationen zu provozieren.

Letzten Endes verlief alles so, wie man es sich anfangs vorgenommen hatte. Und obwohl es bei der Urteilssprechung einige gegenteilige Meinungen gab, handelten die Vertreter aller vier Mächte doch insgesamt gesehen völlig einmütig. Die drohende Gefahr führte die Menschen der verschiedenen. Länder und Kontinente, unterschiedlicher sozialer Systeme und Anschauungen nicht nur auf den Schlachtfeldern des Krieges, sondern auch am Tisch des Internationalen Gerichtshofes zusammen. Gerade deshalb wurde der Nürnberger Prozeß in der ganzen Welt als das Gericht der Völker angesehen. Man erwartete von ihm internationale Sicherheit, die Vereinigung der Menschen, damit der Friede, ihr kostbarstes Gut, geschützt werde.

Das Nürnberger Urteil ist das Damoklesschwert, das stets über den Häuptern derjenigen schweben wird, die erneut versuchen sollten, das friedliche Leben der Völker zu stören und die Menschheit in einen neuen Krieg zu stürzen. Nachdem das Urteil verkündet war und alle den Gerichtssaal verlassen hatten, fotografierte ein französischer Journalist die leere Anklagebank. Am nächsten Tag kam er zu mir und schenkte mir einen Abzug von diesem Foto. Wir betrachteten beide das Bild, und es schien zu sagen: »Denken Sie an die Lehren, der Geschichte, meine Herren! Vergessen Sie Nürnberg nicht!«

Quelle:
Arkadi Poltorak: Nürnberger Epilog, Deutscher Militärverlag Berlin, 1971, S.615-625.
(Zwischenüberschriften von mir, N.G.)

Nachtrag:
Zuerst, danke Nadja für den Hinweis! Es stimmt – der Autor hat es tatsächlich fertiggebracht, nicht ein einziges Mal denjenigen zu erwähnen, der mit Klugheit und wahrhaft heroischem Einsatz das sozialistische Vaterland vor der Vernichtung durch die faschistischen Aggressoren rettete, indem er das ganze Sowjetvolk mobilisierte, und der als Oberster Befehlshaber die Rote Armee zum Sieg über diesen gnadenlosen und mächtigen Feind, den deutschen Faschismus, führte: J.W. STALIN. Das zeugt von Dummheit und von grober Ignoranz! Nun muß man allerdings berücksichtigen, daß zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches (1965) der Verursacher dieses stalinfeindlichen Kurses, N.Chruschtschow, gerade abgelöst worden war. Doch damit war der von ihm ausgehende Geschichts-revisionimus, die Demontage der KPdSU keineswegs beendet. Diese fanden, das ist bekannt, mit der Konterrevolution und den Volksverrätern Gorbatschow und Jelzin 1990 ihren vorläufigen Höhepunkt. Möglicherweise unterlag auch dieses Buch der Zensur, was jedoch den Wert der hier geschilderten Episoden keineswegs mindert. Das Buch ist eine Erzählung. Unter Verzicht auf Quellenangaben, ein Namensverzeichnis sowie ein Verzeichnis der verwendeten Literatur, ist es durchaus informativ, wenn auch von geringerem wissenschaftlichen Wert. Der Autor bezieht einen klaren antifaschistischen Standpunkt, läßt jedoch die klassenmäßige Analyse oft vermissen. Empfehlung: lesenwert, aber mit kritischem Blick! (N.G.)

Siehe auch:
Der Weg in die faschistische Diktatur
Robert Merle: Die Psyche eines Faschisten
Die Kriegsschuld Deutschlands und die Mitschuld des deutschen Volkes
Osaritschi – ein Wehrmachts-KZ in Weißrußland
Deutscher Völkermord in Leningrad

5 Gedanken zu “Der Nürnberger Prozeß: Epilog.

  1. Hallo Genosse Norbert,
    Das Buch von Poltorak habe ich gelesen. War (bin stets noch) enttäuscht. Seine „Leistung“: Es ist ihm gelungen in 625 Seiten, J.W.STALIN nicht ein einziges Mal zu erwähnen!
    Kampfesgrüße,
    Nadja

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  2. Stimmt leider. Ich gebe zu, das war mir beim Heraussuchen dieses Beitrags nicht aufgefallen, zumal das Buch weder ein Namensverzeichnis hat, noch Quellen benennt. Das ist schon eine ziemliche Unterschlagung! Und irgendwie hebt Poltorak auch Tuchatschewski so eigenartig hervor (S.319)…
    Na, vielleicht finde ich doch noch ein besseres Buch, dann nehme ich das hier wieder raus.

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  3. Hallo, Genosse Norbert,
    Ach wo, von mir aus brauchst Du diese Buchpräsentierung nicht löschen.
    Mit meine Zuschrift und Deine Antwort darunter ist der Leser gewarnt.
    Kampfesgrüße,
    Nadja

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  4. Lassen wir die Frage nach dem Verbleib des Genossen Stalin in diesem Fall doch mal beiseite, schauen uns die obigen grausigen Bilder in Ruhe an und fragen uns dann, wie viele gelehrige „Schüler“ von Ebert, Noske, Scheidemann, Kautsky, Zörgiebel, vormaligen Legien-Fußtruppen, so genannten „freien Gewerkschaftern“ und späteren, den „Betriebsführern“ gehorsamen DAFlern, nun dort – in der UDSSR und vielen anderen besetzten Ländern – als brave gehorsame Landsknechte des deutschen Imperialismus, natürlich nur „auf Befehl“, an diesen Verbrechen, ob mit oder ohne „Herz“, mitgewirkt haben mögen.
    Es reicht nämlich keinesfalls aus, sich endlos über imperialistische Kriegsverbrechen öffentlich und medial-konform zu empören, immer bloß Hitler und seine Generäle, die damaligen Herren des Großkapitals anzuklagen, es muss auch offen und ehrlich die Frage geklärt werden, warum den Anstiftern und Nutznießern von Kriegen und solcher Greueltaten der Nachschub an willigen Henkern und Mördern, gehorsamen Befehlsempfängern und Bütteln offenbar niemals ausgeht.
    Und wie gerade die aktuellen Ereignisse in Lybien, Syrien und rund um den Iran zeigen, sind das keinesfalls nur historische Fragen.
    Für alle Freunde heutiger „Sozialpartnerschaften“ und berüchtigte „Co-Manager“ aller „Standorte“ natürlich sehr unangenehme Fragen.
    Doch gerade auch deswegen müssen sie immer wieder gestellt werden.

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